Interview

Innovationen in Deutschland vorantreiben – Interview mit Klaus Baader, Chefvolkswirt bei Societe Generale

ideas: Herr Baader, Sie sind seit 2017 Chefvolkswirt bei Société Générale. Können Sie uns kurz etwas zu Ihrem Werdegang erzählen und was die Arbeit eines Chefvolkswirts ausmacht?
Klaus Baader: Ich habe eine gänzlich lineare Karriere durchlaufen. Nach dem Wirtschaftsstudium an der Uni Köln und an der London School of Economics habe ich 1989 bei Salomon Brothers als Deutschlandvolkswirt – und dem damals sogenannten DM-Block – angefangen. Über die Jahre dehnte sich mein Aufgabenbereich auf die Eurozone aus, bis ich 2012 von Société Générale die Gelegenheit bekam, nach Hongkong umzusiedeln und Chefvolkswirt für Asien und Australien zu werden, was ich sechs Jahre gemacht habe, wobei ich enorm viel gelernt habe. Und dann kam die Beförderung zum Chefvolkswirt Weltwirtschaft – die ich übrigens anfänglich als eine enorme Herausforderung empfunden habe. Während inhaltlich mein Werdegang ganz linear war, kann man das nicht über meine Arbeitgeber sagen. Nach Salomon kam UBS, dann Lehman Brothers in zwei Etappen von ganzen zehn Jahren, kurz mal bei der Deutschen Bank, vier Jahre bei Merrill Lynch, bis ich 2009 bei SG gelandet bin.

Chefvolkswirt in einer Bank zu sein, ist ein Balanceakt: Einerseits muss man versuchen, die Interpretationen und Prognosen der einzelnen verantwortlichen regionalen Teams in eine globale Sicht, man könnte sagen »Narrative« zu aggregieren, was aber oft sehr schwierig ist. Andererseits muss man auch seine eigenen Ansichten und Überzeugungen über die weltwirtschaftliche Lage vertreten und was gerade die wesentlichen Treiber des globalen Konjunkturzyklus sind. Wie gesagt, ein Balanceakt.

In den vergangenen drei Jahren gab es weltweit gleich eine ganze Reihe an Krisen. Auf Corona folgte der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, gepaart mit der Energiekrise und einer deutlich steigenden Inflation. Haben Sie sich manchmal selbst gewundert, wie lange sich die Wirtschaft robust gezeigt hat?
Ja und nein. Klar, die exogenen wirtschaftlichen Schocks waren krass, wie Sie richtig erwähnen. Ich würde noch einen weiteren Schock anführen, der weniger diskutiert wird, und das ist die Rezession in China im Jahr 2022. Es hat also in den vergangenen drei Jahren nicht an Belastungen gefehlt. Was sich meiner Meinung nach aber wieder gezeigt hat, ist, dass die Fiskalpolitik ein sehr effektives Instrument ist und in der Covidkrise viel wichtiger war als die Geldpolitik, der für mich in den Finanzmärkten eher zu viel Bedeutung beigemessen wird.

Nun ist Deutschland nach zwei Quartalen mit negativem Wirtschaftswachstum »offiziell« in der Rezession. Was war Ihrer Meinung nach der oder die Auslöser?
Zuerst möchte ich betonen, dass zwei aufeinanderfolgende Rückgänge im BIP nicht unbedingt eine Rezession darstellen. Für mich ist von enormer Bedeutung, was sich im Arbeitsmarkt abspielt, und hier sieht es ja in allen Industrieländern deutlich besser aus. Aber man sollte Haarspalterei vermeiden, und die Lage ist eben offensichtlich nicht gut.

Meiner Meinung nach ist die Inflation die größte Last der Wirtschaft, weil sie eben eine massive negative Verschiebung in den Terms-of-Trade praktisch aller Industrieländer erzeugt hat: Importierte Güter, Energie, insbesondere aber Nahrungsmittel, sind drastisch teurer geworden, was die Kaufkraft der Haushalte und vieler Unternehmen sehr geschwächt hat. Hinzu kommt, dass die massive Verschiebung der Nachfrage von Dienstleistungen zu Gütern, die ein ganz wesentliches Merkmal der Coronarezession war, sich jetzt eben wieder zurückbildet. Und Deutschland mit seinem eher überdurchschnittlichen Gewicht im produzierenden Gewerbe leidet da natürlich mehr als viele andere. Man muss sich aber auch bewusst sein, dass die deutsche Wirtschaft ja schon 2019, also vor Corona, schwächelte. Einen wesentlichen Anteil hatte die Schwäche in der Automobilindustrie, aber eine Reihe anderer Schwachpunkte spielt auch eine Rolle, nicht zuletzt die Energiepolitik.

Was sagen denn die Wirtschaftsindikatoren? Ist Besserung in Sicht?
Die Wirtschaftsindikatoren zeichnen momentan ein sehr gemischtes Bild. Abgesehen vom schwachen BIP sind die Frühindikatoren, also Stimmungsbarometer, eher schwach. Aber hier sind die Zeichen ganz unterschiedlich: schwach in der Industrie, aber stark im Dienstleistungsbereich. Und selbst in der Industrie sind ganz unterschiedliche Tendenzen zu beobachten: Die Produktion im verarbeitenden Gewerbe ist eher im Aufwind, der Bausektor hält sich auch recht gut, aber die Energieproduktion nimmt rasant ab. Jetzt hat sich auch der Auftragseingang im verarbeitenden Gewerbe jüngst drastisch abgeschwächt, und zwar sowohl was inländische als auch Exportorders angeht. Der PMI für die Industrie ist deutlich in der Kontraktionszone, der ifo-Index ist schwach und die Einzelhandelsumsätze sind preisbereinigt auch deutlich gefallen, obwohl sie nominal recht robust sind. Das ist eben der Effekt der Lebenshaltungskostenkrise.

Ich sehe aber auch positive Elemente, die für mich von entscheidender Wichtigkeit sind: Wie erwähnt, ist für mich der Inflationsschock von großer Bedeutung, und der dreht ja gerade. Gleichzeitig haben wir immer noch einen sehr robusten Arbeitsmarkt, der sich nicht nur in deutlichem Beschäftigungswachstum manifestiert, sondern jetzt endlich auch in höherem Lohnwachstum, was die real verfügbaren Haushaltseinkommen nach deutlichen Rückgängen wieder erhöhen sollte, und zwar ganz bald. Zudem sitzen die deutschen Haushalte auch auf enormen Ersparnissen, die sie in der Coronakrise mithilfe öffentlicher Einkommensunterstützungen aufgehäuft und bisher nicht aktiviert haben. Ich hoffe immer noch, dass sie das tun werden. Ansonsten laufen die Deutschen ins Risiko, die Wirtschaft kaputtzusparen, um Bundeskanzler Helmut Schmidt zu zitieren.

Die Aktienmärkte sprachen zuletzt eine andere Sprache. Im Speziellen der DAX, der im Juni ein neues Allzeithoch verzeichnen konnte. Wie erklären Sie sich dieses Paradoxon?
Ich bin Volkswirt und kein Aktienexperte und will hier vorsichtig sein. Es stimmt, es ist schon allerhand, dass die öffentliche Diskussion völlig vom Rezessionsgerede dominiert wird und der Aktienmarkt trotzdem Gewinne verzeichnet. Und das vor dem Hintergrund deutlich höherer Zinsen. Lassen Sie mich zwei Überlegungen einwerfen: Erstens, Aktienmärkte eilen meist dem Konjunkturzyklus weit voraus und sind 2022 ja ganz übel abgesackt, nicht zuletzt wegen der verbreiteten Meinung, dass eine schwere Rezession kurz bevorsteht – die ja eben nicht eingetreten ist. In den USA bis jetzt gar nicht und in Europa schlimmstenfalls in sehr gelindem Ausmaß. Anders ausgedrückt: Die Aktienmärkte haben die Rezession schon 2022 einkalkuliert, und jetzt wird die Erholung eingepreist. Zweitens, die US-amerikanischen Aktienmärkte sind denen in anderen Wirtschaften weit vorgeprescht, und somit sehen diese Märkte vielerorts jetzt recht attraktiv aus. Aber wie gesagt, hier bin ich kein Experte.

Was braucht es jetzt, um das Ruder herumzureißen, damit die deutsche Wirtschaft wieder wachsen kann?
Das ist eine enorm schwierige Frage, und ich bin mit Sicherheit nicht im Besitz des Steins der Weisen. Und nach 37 Jahren, in denen ich nicht mehr in Deutschland gelebt habe, fehlt mir auch die Nähe. Aber ich kann ein paar Eindrücke einwerfen: Im internationalen Vergleich scheint mir Deutschland relativ zurückgefallen zu sein seit Mitte der Achtzigerjahre, insbesondere was die Infrastruktur angeht, sowohl öffentlich wie privatwirtschaftlich. Und besonders, was neue Technologie angeht. Deutschland macht mir auch einen überbürokratisierten und überreglementierten Eindruck. Und obwohl ich keine konkreten Maßnahmen vorschlagen kann, scheint mir, dass Deutschland eine Strategie fehlt, unternehmerische und wissenschaftliche Innovation voranzutreiben. Die Politik kann hier ganz entscheidend einwirken, ich vermisse aber den Willen, dies zu tun.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anja Schneider.