Interview

Die Wertpapierkultur stärken: Interview mit Dr. Henning Bergmann und Christian Vollmuth, geschäftsführende Vorstände beim Bundesverband für strukturierte Wertpapiere

ideas: Vor mehr als 15 Jahren ist der Verband gegründet worden. Können Sie, als geschäftsführender Vorstand, uns kurz erklären, was seinerzeit die Zielsetzung war?
Dr. Henning Bergmann: Bei der Gründung des DDV im Jahr 2008 war es das Ziel der Branche, durch ein möglichst breit getragenes Engagement Vertrauen aufzubauen, und zwar sowohl gegenüber Politik, Verwaltung und Medien als auch mittels gemeinsamer Standards gegenüber Anlegerinnen und Anlegern. Später haben wir dann erkannt, dass eine Begleitung der EU-Gesetzgebung aus Deutschland heraus immer wichtiger wurde. Denn dort haben mehr als 80 Prozent der Regelungen im Kapitalmarktbereich ihren Ursprung, und die Kulturen in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterscheiden sich erheblich. Wir haben daher speziell mit Verbänden in Frankreich den Schulterschluss gesucht, denn oftmals sind in Brüssel deutsch-französische Verständigungen die Leitlinie für eine europäische Lösung.

Bei seiner Gründung hieß der Verband noch Deutscher Derivate Verband. Erst im September dieses Jahres wurde er in BSW umbenannt. Was waren die Beweggründe dafür?
Christian Vollmuth: Bundesverband für strukturierte Wertpapiere bezeichnet präzise das, wofür wir stehen: für die Interessenvertretung und das Produktangebot von strukturierten Wertpapieren für private Anleger. Wir ersetzen die technische Bezeichnung »Derivate« und positionieren die strukturierten Wertpapiere gemäß ihren größtenteils einzigartigen Chance-Risiko-Profilen zwischen den traditionellen Wertpapierklassen Anleihen und Aktien als Instrumente für Vermögensaufbau, -anlage und -absicherung. Unser neuer Name schafft Klarheit, weil er sich nicht mehr auf die Bausteine der Produkte fokussiert, sondern auf die positiven Eigenschaften von Wertpapieren – von einem von der Aufsicht genehmigten Prospekt über die transparenten Auszahlungsprofile bis zum transparenten Börsenlisting.

Wenn Sie einmal zurückblicken: Wie hat sich die Verbandsarbeit in den vergangenen 15 Jahren verändert?
Dr. Henning Bergmann: Die Themen haben sich gewandelt. Stand vor 15 Jahren die Bewältigung der Finanzmarktkrise im Vordergrund – die ja zunächst national erfolgte –, hat sich der Fokus nun verschoben hin zu einem immer gezielteren Anlegerschutz, zu mehr Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Wir haben die Interessenvertretung immer stärker europäisiert und professionalisiert. Und nicht zuletzt hat die zunehmende Zahl von Fördermitgliedern einschließlich der Direktbanken und Neobroker dafür gesorgt, dass wir uns bei immer mehr Themen in die politische Debatte einbringen.

Welche Themen und Herausforderungen stehen in der nahen Zukunft bei Ihnen auf der Agenda?
Christian Vollmuth: Wir setzen einen Schwerpunkt auf Sustainable Finance. Das Interesse an nachhaltiger Geldanlage steigt – auch durch die politisch-regulatorische Agenda. Unsere Botschaft: Alles, was strukturierte Wertpapiere können, können sie auch nachhaltig. Wir wollen das Thema in Deutschland und auf EU-Ebene mitgestalten – denn der ESG-Rahmen wird in Brüssel bestimmt, wo wir mit unserem europäischen Dachverband EUSIPA vertreten sind.

Deutlich wichtiger wird künftig die Finanzbildung. Die Menschen brauchen mehr Wissen darüber, wie man Geld anlegt. Wir unterstützen deshalb aktiv die »Initiative Finanzielle Bildung« der Bundesministerien für Finanzen und für Bildung und Forschung.

Und natürlich geht es um die europäische Gesetzgebung. Momentan liegt unser Fokus auf der Retail Investment Strategy (RIS) der EU-Kommission – auch »Kleinanleger-Strategie« genannt. Wir wollen unsere Wertpapierkultur stärken und stehen für hundertprozentige Transparenz, was Chancen, Risiken und Kosten von Finanzprodukten betrifft.

Was waren die bisher größten Erfolge, die der BSW erreicht hat?
Dr. Henning Bergmann: Wir stoßen als Verband auf offene Ohren, wenn wir Gespräche in Berlin, Brüssel, Paris oder in Frankfurt führen. Unserer Einschätzung und unserem Wissen wird Vertrauen geschenkt und Gewicht beigemessen. Wenn das in der Politik am Ende dafür sorgt, unsere Expertise bei der Ausgestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, haben wir viel erreicht. Speziell bei steuerlichen Rahmenbedingungen war und ist unsere Expertise besonders gefragt, aber auch bei Fragen möglicher Produktinterventionen insbesondere der europäischen Aufsicht. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass solche Erfolge im Stillen gewürdigt werden. Wir warten aber nicht nur auf Regulierung, sondern gestalten auch selbst durch eigene Marktstandards, wie beispielsweise den Fairness-Kodex, der weit vor den gesetzlichen Vorgaben auch eine Aufklärung der Anleger über die Kosten vorsah, oder den Nachhaltigkeitskodex.

Während der Coronapandemie ist das Interesse an den Kapitalmärkten immens gestiegen. Sehen Sie trotzdem noch Nachholbedarf bei der Finanzbildung in Deutschland?
Christian Vollmuth: In unserer Online-Umfrage »Trend des Monats« haben wir im August gefragt, ob die Teilnehmer Handlungsbedarf bei der Finanzbildung in Deutschland sehen. Über 80 Prozent haben sich für eine staatliche organisierte Finanzbildung ausgesprochen! Knapp die Hälfte votierte für ein umfassendes und anbieterunabhängiges staatliches Finanzbildungskonzept, ein knappes Drittel befürwortete eine staatlich organisierte Basisaufklärung und sieht Vertiefung und Weiterbildung als individuelle Aufgaben an. Wir, vor allem aber unsere Emittenten, stellen bereits umfangreiches Informationsmaterial zur Verfügung, werden dieses Angebot aber noch ausbauen – denn nur gut informierte Anleger sind in der Lage, sowohl im beratungsfreien Geschäft als auch im Rahmen einer Anlageberatung souveräne Anlageentscheidungen zu treffen.

Deutschland möchte künftig mit der Aktienrente die Rentenkassen stabilisieren. Doch das Vorhaben hat nicht nur Fans. Was entgegnen Sie Kritikern?
Christian Vollmuth: Nach mehr als einem Jahrzehnt Niedrig- und Nullzinsphase, die klassischen Sparern quasi keinen Vermögenszuwachs ermöglichte, bedroht derzeit eine hartnäckige Inflation die Guthaben. Wir sind davon überzeugt, dass langfristiger Werterhalt und solides Vermögenswachstum nur über ein Engagement an den Aktienmärkten mit ihren spezifischen Risiken möglich ist. Viele Anleger haben dies erkannt und nutzen strukturierte Wertpapiere, um diversifiziert zu investieren und Risiken zu reduzieren: Der Großteil der Anlageprodukte bietet Anlegern Investitionsmöglichkeiten, die geringere Risiken tragen als Direktinvestments in die zugrunde liegenden Aktien.

Sehen Sie Chancen, dass Provisionen im Wertpapiergeschäft auch weiterhin möglich sein werden?
Dr. Henning Bergmann: In Brüssel sagt man gerne: »Es ist nichts entschieden, bevor nicht alles entschieden ist.« Es gibt gute Argumente, warum auch im beratungsfreien Geschäft für die vielfältigen Services Provisionen angebracht sein können. Nachdem was wir zuletzt gesehen haben und hören, scheinen solche Argumente im Parlament und im Rat auf offene Ohren zu stoßen. Eine abschließende Positionierung der beiden Institutionen steht aber momentan noch aus. Wir werden nicht nachlassen, dafür zu werben, dass Provisionen die Qualität für Anlegerinnen und Anleger steigern können und somit ihre Berechtigung haben können.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anja Schneider.