Fibonacci-Retracements

In jedem Trend kommt es früher oder später zu Bewegungen in die Gegenrichtung. Anleger, die den Kursen nicht hinterherlaufen wollen, bietet sich dann die Möglichkeit, zu günstigeren Kursen zu kaufen. Doch wo soll man genau einsteigen? Neben klassischen Unterstützungen und Widerständen haben sich für die Beantwortung dieser Frage auch sogenannte Retracements als hilfreich erwiesen.

Als Retracements bezeichnet man bestimmte prozentuale Niveaus, auf denen die Kurse an den Finanzmärkten typischerweise eine vorausgegangene Trendbewegung korrigieren. Die Beobachtung, dass Märkte diese Tendenz zur Beachtung bestimmter Korrekturbereiche haben, wurde bereits in der Frühphase der Technischen Analyse gemacht. Charles Dow, W. D. Gann und R. N. Elliott haben diese Erkenntnis in den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts zu Papier gebracht. Die genauen empirischen Ergebnisse der genannten drei Autoren weichen teilweise etwas und die theoretischen bzw. numerischen Fundamente zur Erklärung des Phänomens – soweit vorhanden – deutlich voneinander ab. Durchgesetzt haben sich heute in der Praxis vor allem die Fibonacci-Retracements, die auf die Untersuchungen von R. N. Elliott zurückzuführen sind. Das entsprechende Werkzeug zum Auffinden der Retracement-Niveaus ist in jeder Chartanalyse-Software enthalten. Das 0-Prozent-Niveau wird dabei an den Ursprung der Trendbewegung, das bedeutet an ein vorausgegangenes bedeutendes Tief oder Hoch, angelegt. Das 100-Prozent-Niveau wird an das Hoch oder Tief angelegt, von dem die aktuelle Korrektur startete.

Fibonacci-Zahlenfolge als Basis
Leonardo da Pisa – alias Fibonacci – war einer der bedeutendsten Mathematiker des Mittelalters. Nach ihm wurde eine unendliche Zahlenfolge benannt, die einige interessante mathematische Aspekte aufweist und auch in der Natur häufig vorkommt. Gebildet wird diese Folge ganzer Zahlen, indem man mit den beiden vorgegebenen Zahlen 0 und 1 beginnt und anschließend jede weitere Zahl aus  er Summe der beiden Vorgänger-Zahlen ableitet. Daraus ergibt sich dann die Sequenz (0, 1,) 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144 usw. Das Verhältnis einer Zahl zur nächsthöheren Zahl nähert sich nach den ersten vier Gliedern dem Wert 0,618 an. Das Verhältnis einer Zahl zur nächstniedrigeren Zahl nähert sich der Zahl 1,618 an, was dem Kehrwert von 0,618 entspricht. Das Verhältnis einer Zahl zur übernächsten Zahl nähert sich dem Wert 2,618 bzw. dem Kehrwert 0,382 an. R. N. Elliot entwickelte die später nach ihm benannte Elliott-Wellen-Theorie, deren mathematische Grundlage die Fibonacci-Zahlenfolge ist. Elliott entdeckte dabei unter anderem, dass Korrekturen am Aktienmarkt häufig eine prozentuale Wegstrecke zurücklegen, die sich aus den Verhältnissen der Fibonacci-Zahlenfolge ergibt.

Korrekturniveaus
Die drei wichtigsten Fibonacci-Ratios sind 0,382, 0,50 und 0,618. Daraus ergeben sich die prozentualen Korrekturniveaus 38,2 Prozent, 50 Prozent und 61,8 Prozent. Daneben finden auch das 23,6-Prozent-Retracement, das 76,4-Prozent-Retracement sowie das 78,6-Prozent-Retracement starke Beachtung. Das 50-Prozent-Korrekturniveau gilt auch nach Charles Dow und W. D. Gann als wichtiges Retracement. Dow verwendete daneben das 1/3-Korrekturniveau sowie das 2/3-Korrekturniveau. Gann hielt unter anderem das 25-Prozent-Korrekturniveau und das 75-Prozent-Korrekturniveau für ebenfalls relevant. Die praktischen Unterschiede zwischen den drei genannten Vordenkern hielten sich somit in engen Grenzen.

Grafik 1: Fibonacci-Retracements

Praktische Anwendung
Wie lassen sich nun die Retracements in einen konkreten Trading-Plan bzw. in die Analyse einbauen? Bei der Beantwortung dieser Frage sollte sich der Anleger zum einen bewusst sein, dass man nie sicher sein kann, auf welchem der relevanten Niveaus die Kurse drehen oder ob sie dies überhaupt auf einem der genannten Niveaus tun und nicht irgendwo dazwischen. Oder ob es gar zu einem Retracement von über 100 Prozent und mithin zu einer Trendwende kommt. Zum anderen sind die Retracement-Level analytisch nicht als exakte Punkte, sondern eher als Zonen aufzufassen, auch wenn es tatsächlich häufig zu einem Drehen der Kurse exakt auf den entsprechenden Niveaus kommt. Zur Steigerung der Erfolgsaussichten sollten daher immer auch die anderen Methoden und Werkzeuge der Technischen Analyse mit zurate gezogen werden. Insbesondere die Trendanalyse und die »klassischen« Unterstützungen bzw. Widerstände sind dabei von hoher Relevanz. Im Rahmen eines dynamischen Trends bieten Retracements eine solidere Barriere. Bilden Retracements gemeinsam mit klassischen Unterstützungen bzw. Widerständen Cluster, da sie nahe beieinander oder sogar aufeinander liegen, steigt die Erfolgsaussicht auf ein Drehen der Kurse weiter an. Man kann zudem eine Bestätigung im Preisverhalten – beispielsweise anhand eines Candlestick-Umkehrsignals oder einer formationstechnischen Bodenbildung – in einem kürzerfristigen Chart auf dem infrage kommenden Niveau abwarten. Dann könnte ein enger Stop-Loss knapp unterhalb bzw. oberhalb des jeweiligen Retracements platziert werden. Ferner können Retracements auch als einfache und grobschlächtigere Einstiegstechnik genutzt werden: Wenn die grundsätzliche Entscheidung für beispielsweise einen Long-Trade bereits gefallen ist, könnte ein Anleger nach dem Beginn der Korrektur auf dem 50-Prozent-Niveau eine erste (halbe) Position eingehen (per Limitorder) und auf dem 61,8-Prozent-Niveau eine zweite. Der Stop-Loss für beide Teilpositionen sollte dann unterhalb des Ausgangspunkts der Trendbewegung, das heißt des 100-Prozent-Retracements, platziert werden.