WIE KONNTE DER ÖLPREIS NEGATIV WERDEN?

Die Entwicklung am Ölmarkt hielt die Marktteilnehmer in den vergangenen Wochen in Atem. Wir haben dazu Bent Olgin Müller drei Fragen gestellt, um mehr über die Hintergründe zu erfahren.

Herr Müller, Sie sind seit 14 Jahren im Rohstoffhandel tätig. Im April 2020 ist der Preis für WTI-Öl zum ersten Mal in der Geschichte in den negativen Bereich gefallen. Hätten Sie das jemals für möglich gehalten und können Sie unseren Lesern erklären, wie es zu diesem historischen Ereignis überhaupt gekommen ist?
Dass die theoretische Möglichkeit besteht, war mir bekannt. Dass es hierzu jedoch tatsächlich in der Praxis kommt, hielt ich für ausgeschlossen.

Ausgelöst wurde der Preisrutsch im Kern durch das Zusammenkommen von zwei Faktoren: Zum einen gab es einen coronavirus-bedingten Einbruch der Nachfrage: Verkehr und Industrieproduktion sind zum Teil vollständig zum Erliegen gekommen. Zum anderen gab es ein Ölangebot, das nicht schnell genug gedrosselt wurde bzw. nicht schnell genug gedrosselt werden konnte, und darüber hinaus einen Preiskrieg der ölproduzierenden Länder, die den Markt mit billigem Öl förmlich überschwemmt haben. Die Konsequenz waren schnell steigende Lagerbestände und die Furcht, die Lagerkapazitäten könnten nicht ausreichen, um weiter gefördertes Öl aufzunehmen. Was machen Sie mit dem ersten Barrel Öl, das aus Ihrer Pipeline kommt, wenn Sie es nicht mehr lagern können? Sie können es nicht einfach auf den Boden schütten, also bezahlen Sie jemanden dafür, dass er es Ihnen abnimmt. Oder anders ausgedrückt: Sie verkaufen zu negativen Preisen. Im Kern ist genau das passiert.

Allerdings muss man das Ganze ein wenig relativieren. Um das zu erklären, muss ich etwas weiter ausholen: Oft wird in den Medien von »dem« Ölpreis gesprochen. Das vereinfacht die Situation zu sehr. Grundsätzlich gibt es zwei Benchmark-Ölsorten, die auch als Basiswerte für die meisten Zertifikate dienen: Brent Crude Oil (»Brent«), das in der Nordsee gefördert wird, und das US-amerikanische Äquivalent West Texas Intermediate Crude Oil (»WTI«).

Grundsätzlich handelt Öl an den internationalen Terminmärkten in Form von Future-Kontrakten, die die Pflicht zur Abnahme (long) bzw. die Pflicht zur Lieferung (short) des zugrunde liegenden Rohstoffs zu einem zukünftigen Termin vorsehen. Für die beiden genannten Ölsorten gibt es monatliche Future-Verfälle. In der gegenwärtigen Situation hilft es, sich vorzustellen, dass jeder Future-Kontrakt (also jede Kontraktlaufzeit) einen eigenen Basiswert repräsentiert. Zwar wird schlussendlich dieselbe Qualität und Menge an Öl geliefert, aber Öl zur Lieferung morgen ist etwas ganz anderes als Öl zur Lieferung in einem Jahr, insbesondere dann, wenn die Lager (kurzfristig) vollzulaufen drohen.

Da die Angebot-Nachfrage-Situation vor allem kurzfristig sehr angespannt war (und ist) und für die Zukunft sowohl mit einer Erholung der Nachfrage als auch mit einer Anpassung des Angebots gerechnet wird, sind vor allem die Terminkontrakte mit kurzer Laufzeit extrem unter Druck geraten. Längerfristige Future-Kontrakte hingegen handeln bereits deutlich höher (sogenannte Contango-Situation).

Überdies war der Ausverkauf bei WTI deutlich dramatischer als bei Brent, da insbesondere hier befürchtet wurde, die Lagerkapazitäten könnten nicht ausreichen. Und so kam es am 20. April 2020 dazu, dass der Preis für den WTI-Mai-2020-Future-Kontrakt (und nur für diese eine Kontraktlaufzeit!) ins Negative abrutschte. Der Preis fiel bis auf –40,32 US-Dollar pro Barrel, bevor er sich erholte.

Begünstigt wurden diese erratischen Kursbewegungen auch dadurch, dass der WTI-Mai-2020-Future-Kontrakt nur einen Tag vor seinem letzten Handelstag stand. Typischerweise sind so kurz vor Fälligkeit nur noch sehr wenige Marktteilnehmer in dieser Laufzeit investiert. Die meisten haben ihre Positionen bereits in längere Laufzeiten gerollt (siehe unten). Dementsprechend dünn war die Liquidität in diesem Kontrakt, was grundsätzlich große Kursausschläge wahrscheinlicher macht. Und dass es in einem ohnehin angespannten Marktumfeld dann zu panikartigen Verkäufen kommt, ist aus Händlersicht nur allzu verständlich.

Wie wirkt sich dieser Sachverhalt auf eine Anlage in Zertifikate aus, die sich auf Öl beziehen?
Für den Großteil der angebotenen Zertifikate war der Preisrutsch ins Negative nicht (direkt) von Bedeutung: Laufzeitbegrenzte Zertifikate auf den WTI-Mai-2020-Future-Kontrakt waren typischerweise bereits einige Tage vorher verfallen und in diesem Zuge mit einem positiven Basiswertkurs final bewertet und abgerechnet worden.

Nicht laufzeitbegrenzte Zertifikate (zum Beispiel Unlimited, Unlimited BEST, Tracker- und Faktor-Zertifikate) bezogen sich zum fraglichen Zeitpunkt zum überwiegenden Teil nicht mehr auf den Mai-2020-WTI-Future, sondern bereits auf den Juni-2020-Kontrakt (oder einen noch längerlaufenden); denn die jeweilige Emittentin hatte den zugrunde liegenden Basiswert bereits einige Tage zuvor in einen längerlaufenden Terminkontrakt getauscht (sogenannter Roll-Over).

Allerdings erlitt auch der WTI-Juni-2020-Future-Kontrakt am Folgetag (21. April 2020) einen dramatischen Kursverlust bis auf 6,50 US-Dollar. Hier kam es zu einer großen Anzahl an Knock-Outs, insbesondere bei sogenannten Turbo-Call-Optionsscheinen, die zum Teil wertlos verfielen.

Was sollten Anleger also bei einem Investment beachten?
Zunächst einmal sollten Anleger sich der Tatsache bewusst sein, dass es nicht »den Ölpreis« gibt, sondern Future-Kontrakte als Basiswerte zum Einsatz kommen. Die einzelnen Future-Kontrakte wiederum können sehr unterschiedliche Preise haben. Anleger müssen sich also zunächst einmal darüber im Klaren sein, auf welchen Future-Kontrakt sich ihr jeweiliges Produkt (momentan) bezieht.

Grundsätzlich unterscheidet man diesbezüglich zwei Arten von Produkttypen: Laufzeitbegrenzte Zertifikate und Optionsscheine beziehen sich grundsätzlich auf einen festen Future-Kontrakt, der sich während der Laufzeit der Produkte nicht ändert, so zum Beispiel bei Classic Turbo-Optionsscheinen, klassischen Optionsscheinen (Calls und Puts) und Discount-Zertifikaten.

Laufzeitunbegrenzte Produkte (zum Beispiel Unlimited Turbo-Optionsscheine, Unlimited BEST-Optionsscheine, Tracker- und Faktor-Zertifikate) hingegen beziehen sich typischerweise auf einen kurzlaufenden Future-Kontrakt. Kurz vor Fälligkeit dieses Futures wird dieser von der Emittentin in einen längerlaufenden Future-Kontrakt »gerollt«. In diesem Zuge werden die Zertifikate und Optionsscheine grundsätzlich so angepasst, dass der Roll-Over für beide Seiten wertneutral ist, also die Produkte sich dadurch nicht im Wert verändern. Dies gilt unabhängig davon, ob längerlaufende Future-Kontrakte teurer (Contango) oder billiger (Backwardation) sind als die kürzerlaufenden. Die genauen Roll-Over-Modalitäten, zum Beispiel genauer Zeitpunkt des Roll-Overs oder Auswahl der Kontraktlaufzeiten, können sich dabei von Produkttyp zu Produkttyp unterscheiden.