Interview

Das Gehirn ist das letzte große Rätsel der Biologie – Interview mit Dr. Henning Beck, Neurowissenschaftler

ideas: Herr Dr. Beck, Sie sind Neurowissenschaftler. Könnten Sie uns bitte nicht nur Ihren Karriereweg skizzieren, sondern auch erklären, was ein Neurowissenschaftler überhaupt macht?
Dr. Henning Beck: Anfang der 2000er sah ich den Film »Matrix« und dachte mir: Es muss spannend sein, eine solche Matrix zu bauen. Ich studierte daraufhin Biochemie und konzentrierte mich recht früh auf die Neurowissenschaften. Denn das Gehirn ist das letzte große Rätsel der Biologie. Kein Organ ist derart gut erforscht und dennoch so wenig verstanden. Aus den unterschiedlichsten Richtungen versucht man in der Neurowissenschaft, dem Denken auf die Schliche zu kommen: auf der Grundlage der Zellen, dem Zusammenspiel neuronaler Netzwerke mithilfe von Psychologie, Anatomie, sogar Informatik und Mathematik. Und dennoch haben wir bis heute noch nicht verstanden, wie aus 1,5 Kilogramm Fett, Eiweiß und Wasser Gedanken entstehen können.

Unser Gehirn hat in den vergangenen Jahren einen harten Konkurrenten bekommen: die künstliche Intelligenz. Ketzerisch gefragt: Hat unser Gehirn ausgedient?
Neulich las ich einen Artikel, in dem es genau um die Frage ging, ob menschliches Denken überflüssig wird. Der Essay gipfelte in dem Satz: »Ich habe es nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann.« Nie war dieses Statement aktueller als heute, denn genau das ist das große wirtschaftliche Versprechen von KI. Dabei ist dieser Satz über 250 Jahre alt und stammt von Immanuel Kant. Viele Menschen machen nämlich den Fehler, »Intelligenz« mit »Denken« gleichzusetzen. Dabei sind wir viel mehr als nur intelligent: Wir sind kreativ, wir sind kooperativ, wir sind empathisch, wir hinterfragen Regeln, brechen sie und stellen neue auf. Intelligenz allein reicht daher bei Weitem nicht aus, um erfolgreich zu sein.

Wird Intelligenz überbewertet?
Ich kann auch ein inselbegabter Nerd mit einem IQ von 190 sein – und dennoch lebensunfähig. Intelligenz bedeutet, Regeln immer effizienter anzuwenden, um ein Problem zu lösen. Es ist ein Optimierungsverfahren – und KI die ultimative Optimierungsmaschine. Schauen Sie sich IQ-Tests an: Es werden ausschließlich Fragen gestellt, bei denen es eine einzige konkrete Antwort gibt. Und wer diese mit dem geringsten Aufwand findet, ist am intelligentesten. Die entscheidenden Denkfähigkeiten werden gar nicht abgefragt: Wie verdoppelt man den Radverkehr in Stuttgart? Wie lösen wir das Rentenproblem? Welche Geschäftsidee wird in 20 Jahren die Welt verändert haben? Kurzum: Was uns erfolgreich gemacht hat, ist das Nicht-Intelligente: Regeln aktiv zu hinterfragen, unsere Denkweisen zu öffnen, auszuprobieren, zu testen. Menschliches Denken geht weit über bloße Intelligenz hinaus.

Gibt es bestimmte Mythen über das Gehirn, die Sie gerne aufklären würden?
Eine schreckliche Legende besagt, dass wir nur einen Bruchteil unseres Gehirns nutzen und wir durch besondere Techniken noch viel leistungsfähiger würden. Es klingt auch verlockend: Denn dann würde bei einigen Zeitgenossen ja noch Luft nach oben sein. Doch die Wahrheit ist: Sie nutzen Ihr Gehirn nahezu immer komplett. Kein Gehirn kann es sich leisten, nicht benötigte Zellen am Leben zu erhalten. Die gute Nachricht ist jedoch: Was diese 100 Prozent Gehirnnutzung genau sind, können Sie bestimmen. Ähnlich wie bei einem Orchester, das auch immer alle Akteure braucht. Doch einmal spielt es ein Lied von Beethoven und ein anderes Mal ein Lied der Beatles. Wofür Sie Ihr Gehirn benutzen, liegt bei Ihnen. Und je intensiver Sie es tun, umso besser werden Sie.

Inwiefern beeinflussen Ernährung und Lebensstil die Gesundheit und Funktionsweise unseres Gehirns? Gibt es Möglichkeiten, »mehr« aus seinem Hirn herauszuholen?
Kennen Sie die Figur »Der Denker« von Auguste Rodin? Der Mann, der seinen Kopf auf seine Faust aufstützt und zusammengekauert über etwas nachgrübelt? Niemals hat man den menschlichen Denkvorgang falscher dargestellt. Niemand kommt auf gute Ideen, wenn er starr auf den Boden schaut. Im Gegenteil: Wir brauchen Bewegung. Konzentrieren Sie sich erst auf ein Problem, wechseln Sie dann die Umgebung, tauschen Sie sich mit anderen aus, fragen Sie Experten und Nicht-Experten nach ihrer Meinung, und kehren Sie dann zum Problem zurück. Wichtig: Haben Sie Phasen, in denen Sie nicht erreichbar sind. Mindestens zweimal am Tag brauchen Sie einen reizarmen Raum, in dem Sie ungestört bleiben. Schaffen Sie sich ein Hobby an, das Ihnen Spaß macht. Die besten Ideen kommen nicht, wenn man sich auf sie konzentriert, sondern wenn man vom Problem zurücktritt. Denn wie sagte schon Louis Pasteur: »Der Zufall trifft den vorbereiteten Geist.«

Welche Auswirkungen hat der Informationsüberfluss, dem wir seitens Internet und Social Media ausgesetzt sind, auf die Funktionsweise unseres Gehirns?
Die Studienlage ist recht eindeutig: Je mehr Sie Social Media zur Zerstreuung nutzen, desto schlechter werden Sie im Priorisieren von Informationen. Sie können sich schlechter konzentrieren, weniger gut Sinnzusammenhänge erkennen. Menschen fühlen sich nach der Social-Media-Nutzung auch schlechter. Niemand ist stolz, viele Onlinevideos angeschaut zu haben. Ich kenne auch niemanden im Alter von 20 Jahren, der sich darüber freut, möglichst früh mit Social Media begonnen zu haben. Laut einer US-Umfrage wünscht sich knapp die Hälfte der Unter-27-Jährigen, sie hätten TikTok niemals kennengelernt. Auch hier gilt daher: Wir brauchen Zeiten der Nicht-Erreichbarkeit. Ain’t no good after brushing your teeth: Abends nach (und morgens vor) dem Zähneputzen keine Bildschirme nutzen. Haben Sie zuhause Räume, in denen Sie keine Smartphones verwenden. Nutzen Sie digitale Geräte zielgerichtet statt gedankenlos. Haben Sie ein konkretes Problem, dass Sie digital lösen können? Dann tun Sie es. Ansonsten ist es verlorene Zeit.

In Ihrem letzten Buch »12 Gesetze der Dummheit« beschäftigen Sie sich mit der Frage, warum wir uns gesellschaftspolitisch wider besseres Wissen falsch verhalten. Was ist in Ihren Augen das größte Fehlverhalten?
Dass Menschen den Optimismus verlieren. Wir haben eine Kultur der Angstmacherei, geradezu eine Untergangsindustrie etabliert. Wir können auf den Tag genau berechnen, wann das CO2-Budget der Erde erschöpft ist oder wann unsere Ressourcen aufgebraucht sind. Hierzulande ist man Großmeister darin, die Zukunft schwarzzumalen. Deutschland ist das einzige Land, bei dem mit zunehmendem Wohlstand die Angst vor Verlust zunimmt. Zum ersten Mal sehnt sich die Mehrheit der Unter-35-Jährigen eher nach einem Leben in der Vergangenheit statt nach einem Leben in der Zukunft. Dabei gilt das Gegenteil: »Pessimists sound smart, optimists make money«, hat der Investor Nat Friedman gesagt. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Probleme clever zu lösen und damit Geld zu verdienen, statt immer nur die Unmöglichkeit zu sehen.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anja Schneider.