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Mobilität ist ein Attribut der FreiHeit – Interview mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang A. Herrmann, ehem. Präsident der TU München

ideas: Herr Prof. Dr. Herrmann, Sie sind Chemiker und waren 24 Jahre Präsident der TU München. Von 2014 bis 2020 saßen Sie dem Zukunftsrat der Bayerischen Wirtschaft vor. Sie leiten den Innovationsbeirat des sächsischen Ministerpräsidenten und seit 2021 den Gründungsbeirat des Deutschen Zentrums Mobilität der Zukunft. Können Sie uns kurz erzählen, was Sie sprichwörtlich« dazu bewegt hat, sich mit dem Thema Mobilität zu beschäftigen?
Prof. Dr. Wolfgang A. Herrmann: Mobilität ist ein Attribut der Freiheit – wir haben ja spätestens während der Covid-19-Pandemie zu spüren bekommen, wie uns eingeschränkte Mobilität belastet. Über Mobilitätstechnologien nachzudenken begann ich als Präsident der TU München, indem ich vor bald 20 Jahren den Schwerpunkt Elektromobilität setzte und sowohl die Fahrzeugtechnik mit dem neuberufenen Ingenieur Markus Lienkamp – von VW abgeworben! – besetzte als auch einen neuen Lehrstuhl für Technische Elektrochemie einrichtete. Damit wird allein schon auf dem Automobilsektor das Diktum der modernen Mobilität klar: Interdisziplinarität! Unseren vollelektrischen Pkw MUTE (kommt von leise) zeigten wir auf der IAA 2011, in Singapur folgte das Elektrotaxi EVA, und 2017 wurde auf der IAA der aCar vorgestellt, der »elektrische Alleskönner« vor allem für ländliche Regionen mit schlechten Straßenverhältnissen, wie sie etwa in unseren Partnerregionen Afrikas vorherrschen. Mobilität ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, das Politik, Wissenschaft und Wirtschaft integriert. Und so ist Mobilitätsentwicklung das Idealthema, international wettbewerbsfähig, für ein wissenschaftlich und wirtschaftlich leistungsfähiges Land.

Derzeit haben wir in Deutschland noch ein hohes Maß an individueller Mobilität. Rein rechnerisch besitzt jeder Haushalt mehr als ein Auto. Was müsste Ihrer Meinung nach passieren, damit hier ein Umdenken stattfindet?
Mobilität von morgen heißt, die Gewohnheiten des Denkens zu überwinden. Weitestgehend vorbei sind ja die Zeiten, in denen – wie in meiner Jugend – das Privatauto als Statussymbol galt. Das individuelle Verhalten wird davon abhängen, wie »neue Mobilität« möglichst hürdenfrei und in möglichst großer Vielfalt verfügbar gemacht wird. Ob es gefällt oder nicht, der Pkw ist Teil eines gesellschaftlichen Systems, das sich über viele Jahrzehnte entwickelt hat und nicht auf Knopfdruck aus- und eingeschaltet werden kann. Andererseits werden Effizienz und Umweltverträglichkeit ständig verbessert. Der heutige Stand der Fahrzeugtechnologie zeigt, dass die Deutschen die besten Autobauer der Welt sind.

Der öffentliche Personennahverkehr scheint in größeren Ballungsräumen eine gute Alternative zum eigenen Pkw zu sein. Sobald man allerdings in ländlichere Regionen schaut, sieht die Sache schon anders aus. Hier sind Taktung und Strecken oft so, dass sie beispielsweise ein tägliches Pendeln nicht zulassen. Wie sehen Sie die Chancen, dass hier in absehbarer Zeit eine Verbesserung eintritt?
Nicht vor jeder Haustür kann eine Trambahn vorbeikommen, klar. Der Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs ist im allgemeinen Bewusstsein und politisch gesetzt. Im städtischen Bereich kommt der individuelle Fahrradverkehr hinzu, als »neue Mobilität« übrigens nicht zu unterschätzen. Im Blick behalten muss man das flache Land: Es kann, allein schon aus arbeitsmarktpolitischen Gründen, auf den Pkw-basierten Pendlerverkehr nicht verzichten, wenn auch der Bus- und Schienenverkehr großen Nachholbedarf hat. Die Tagesmobilität war eben jahrzehntelang überwiegend auf das Auto beschränkt, dem sich viele Entwicklungen unterordnen mussten.

Schon seit Jahren werden Konzepte wie autonomes Fahren oder Carsharing in der Öffentlichkeit besprochen. Die Umsetzung auf breiter Ebene lässt allerdings auf sich warten. Wo stehen wir gerade?
Autonomes Fahren und Carsharing, zwei Paar Stiefel. Aus zaghaften Ansätzen der Fahrerassistenz – das erste Beispiel war der Tempomat – sind hochkomplexe softwaregesteuerte Systeme hervorgegangen, die auf fortgeschrittenen Sensoren und Aktoren basieren. Hier werden riesige Datenmengen selbsttätig gehandhabt. Das Auto ist heute ein hochorganisiertes Informationssystem, das in Riesenschritten zum »Internet of Things« weiterzuentwickeln im Begriff ist. Am Ende sind es Sicherheitsaspekte, die den Einsatz dieser Systeme bestimmen, denn das erreichte Sicherheitsniveau will ja nochmals erhöht werden. Dafür muss sinnvollerweise der regulatorische Rahmen geschaffen werden, der das technisch und gesellschaftlich Akzeptable definiert.

Carsharing ist insofern einfacher, als es sich im Wesentlichen auf individuelle Absprachen und verfügbare Parkplätze reduziert. Im Individualverkehr dürfte Carsharing keine große Bedeutung gewinnen, am ehesten noch im Land-/Stadt-Pendlerberufsverkehr.

Eine große Hoffnung im Hinblick auf emissionsfreie Mobilität liegt auf der E-Mobilität. Wie schätzen Sie hier den Fortschritt für die notwendige Ladesäulen-Infrastruktur ein – gerade im Hinblick auf dicht besiedelte Städte?
Die E-Mobilität signalisiert die entscheidende verkehrs- und umweltpolitische Wende, wenngleich sie gerade in Bezug auf die Rohstoffe für die Batteriefertigung – im Übrigen auch der Seltene-Erde-Elemente für andere Anwendungen im Automobilbau – neue wirtschaftspolitische Abhängigkeiten schafft, mit denen man in einer vernetzten Welt leben muss. Die Ladesäulen-Infrastruktur ist eine unverzichtbare logistische Herausforderung. Dabei wird die deutliche Erhöhung der Ladegeschwindigkeit einen wichtigen Akzeptanzbeitrag zur E-Mobilität leisten, wie Studien unter anderem aus Kalifornien zeigen. Am Ende sollte ein »smart grid«-System stehen, bei dem der Pkw in den Garagenstandzeiten als Teil des elektrischen Netzes fungiert. Im Übrigen sage ich dem »Wasserstoffauto« – ob über Direktverbrennung oder Brennstoffzelle – durchaus Zukunft voraus. Über eine breite Wasserstoffnutzung hatte man jahrzehntelang kaum nachgedacht.

Vor etwas über zehn Jahren sagte der damalige Daimler-Chef Dieter Zetsche fliegende Autos voraus. Ein Jahrzehnt später erscheint diese Ankündigung noch genauso weit weg wie damals. Wie stehen Sie zu fliegenden Pkw?
»Fliegende Autos« – kein Traum, nein, bald Wirklichkeit! So befinden sich in Israel mehrere Konzepte in der Praxiserprobung, von der Notarzt-Drohne über den Familienflieger bis zum Militär-Senkrechtstarter. Solche Entwicklungen gibt es weltweit an vielen Standorten, vor allem auch in Deutschland, wo die großen Traditionen des Automobil- und Flugzeugbaus derzeit idealtypisch zusammenfinden. Ermöglicht durch technische Fortschritte in allen Sektoren wird die Nutzung des Luftraums die Mobilität der Zukunft entscheidend befruchten, der bisherige Straßenverkehr erschließt sich gewissermaßen die dritte Dimension – nicht nur im Kleingüterverkehr, sondern auch im Personenverkehr. Wieder werden elektrische Antriebe und synthetische Kraftstoffe (zum Beispiel aus nachwachsenden Rohstoffen wie Algen) von zentraler Bedeutung sein.

An die Zukunft zu glauben ist die erste Voraussetzung dafür, dass sie entsteht!

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anja Schneider.