Interview

Finanzmärkte bieten unerschöpfliches Betätigungsspektrum – Interview mit Prof. Dr. Christian Koziol, Inhaber des Lehrstuhls für Finance, Eberhard Karls Universität, Tübingen

ideas: Herr Prof. Dr. Koziol, Sie sind Inhaber des Lehrstuhls für Finance an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Teil Ihrer Forschung ist die Bewertung und Allokation komplexer Vermögenswerte. Können Sie uns kurz beschreiben, was das beinhaltet und wie Sie bzw. Ihr Team hier vorgehen?
Prof. Dr. Christian Koziol: Das Schöne an den Finanzmärkten ist, dass ständig neue Produkte, Investmenttrends und auch regulatorische Vorgaben eingeführt werden, die einem ein schier unerschöpfliches Betätigungsspektrum bieten. Momentan arbeiten wir an der Bewertung von immer beliebter werdenden nachhaltigen Anlageprodukten und versuchen dabei, das sogenannte Greenium, also den Renditeabschlag von Green Bonds im Vergleich zu ansonsten identischen herkömmlichen Anleihen, akkurat zu messen. Die Herausforderung hierbei liegt in einer noch recht rudimentären Datenbasis und gewissen, schwer zu spezifizierenden Liquiditätsunterschieden. In einem anderen Projekt analysieren wir die Risikowahrnehmung von Investoren. Hier genügt es nicht, sich auf ein Risikomaß wie die gerne gewählte Volatilität zu verlassen, sondern auch das darin enthaltene Katastrophenrisiko, das beispielsweise durch den Value-at-Risk gemessen werden kann, ist essenziell für die Portfolio-Allokation. Selbstverständlich sind wir auch offen für Forschungsanregungen direkt aus der Praxis. So haben wir beispielsweise die Kosten einer möglichen Finanztransaktionssteuer für die Erzeugung von Optionen abgeschätzt und eine Studie zur Komplexität von Finanzprodukten vorgelegt.

Ein gängiges Vorurteil ist, Zertifikate seien zu komplex. Können Sie dem zustimmen?
Je nachdem, was man unter dem Begriff »komplex« versteht oder besser gesagt verstehen möchte, lässt sich die Frage beliebig mit ja oder nein beantworten. Deshalb sollten wir uns zunächst anderer, besser verständlicherer Bereiche bedienen, um den Begriff richtig einordnen zu können: Wenn ich privat ein Foto machen möchte, kann ich bereits ohne spezielle Fachkenntnisse mit einem Smartphone ein ordentliches Ergebnis erzielen. Das heißt, die Nutzerkomplexität im Zusammenhang mit der Handyfotografie ist sehr gering. Jedoch gibt es diese Nutzerfreundlichkeit nur, weil eine hoch komplexe Geräteentwicklung vorgeschaltet war. Übertragen auf Zertifikate bedeutet das für mich, dass der Investor komfortabel ein gewünschtes Zahlungsprofil erhält, das sich in der Regel jedem mit normalen Leseverständnisfähigkeiten aus der Produktbeschreibung erschließt. Damit für den Nutzer ein solches Profil erzeugt werden kann, sind jedoch gewisse Konstrukte bzw. Absicherungen auf Emittentenseite notwendig. Als Investor kommt einem die hohe Entwicklungskomplexität somit zugute, damit schlussendlich eine niedrige Anwendungskomplexität vorliegt. Nur in Extremsituationen, wenn vor Fälligkeit das Finanzprodukt veräußert und bewertet werden soll, können Fachkenntnisse der Optionsbewertung zwingend erforderlich sein; insbesondere wenn sich die implizite Volatilität stark geändert hat.

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Vorteile strukturierter Produkte?
Hier ist ganz klar die große Vielfalt an Investmentmöglichkeiten zu nennen; insbesondere, wenn man mehr als nur eine Eins-zu-eins-Partizipation an einem prominenten Aktienindex sucht. Beispielsweise werden mit Garantie- oder Bonuszertifikaten gewisse (Extrem-)Risiken ausgeschlossen, was Investoren mehr Zuversicht bietet und ein umfangreicheres Wertpapierengagement ermöglicht. Zinssuchende werden ebenso am Zertifikatemarkt fündig. Mit bonitätsabhängigen Anleihen, Aktienanleihen oder Deep-Discountern kann man je nach Ausgestaltung auch in Negativzinszeiten einen vorgegebenen, positiven Zielzins anvisieren. Nur im Extremfall mit entsprechend niedriger Wahrscheinlichkeit wird er unterschritten. Aus Diversifikationssicht interessant ist für viele auch das immense Angebot an Basiswerten der Zertifikate, das von Aktien über Rohstoffe, Anleihenindizes, bis hin zu Krypto- und Fremdwährungen alles Erdenkliche umfasst.

Seit wenigen Wochen sind Sie Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Derivate Verbands (DDV). Was sind die Hauptaufgaben dieses Beirats?
Der Wissenschaftliche Beirat hat die Aufgabe, die Arbeit des Deutschen Derivate Verbands wissenschaftlich zu begleiten, neue finanzwirtschaftliche Erkenntnisse zugänglich zu machen, zentrale Projekte des DDV zu überprüfen und Anregungen für neue Vorhaben zu geben. Konkret bedeutet dies, dass die Mitglieder des Beirats mehrmals im Jahr turnusgemäß zusammenkommen und auf aktuelle Entwicklungen wie mögliche Regulierungsänderungen oder neue Herausforderungen zum Beispiel im Bereich der Nachhaltigkeit eingehen. Liegt etwas Gravierendes vor, so wie 2016 das drohende Produktverbot von Bonitätsanleihen, dann können auch weitergehende Aktivitäten des Beirats erforderlich werden wie die Veröffentlichung einer gemeinsam abgestimmten Stellungnahme zu diesem Thema. Derzeit besprechen wir im Beirat die vorläufigen Ergebnisse einer Neuauflage der Kostenstudie von Zertifikaten, die erfahrungsgemäß am Markt auf großes Interesse stößt.

Eines der Ziele des DDV ist die Bildung von Anlegern in Finanzthemen. Sind Privatanleger heute besser informiert als noch vor 15 Jahren?
Das verfügbare Angebot an Finanzinformationen für Anleger ist definitiv umfangreicher geworden. Zu dieser Entwicklung haben aber nicht nur Verbände wie der DDV beigetragen, sondern auch die Tatsache, dass im Zeitalter von sozialen Medien viel mehr gepostet wird. Während früher gewisse Informationen wie Credit Spreads von Emittenten oder aktuelle Preise von Zertifikaten nur schwer oder gar nicht zugänglich waren, besteht heutzutage eher die Herausforderung in der Auseinandersetzung mit zu viel Information und Beipackzetteln, die man in vollem Umfang gar nicht mehr beachten kann oder will. Unterm Strich bin ich nicht davon überzeugt, dass Investoren heute besser informiert agieren als vor der Finanzkrise. Phänomene wie die Absprachen von Kleinanlegern bei der GameStop-Aktie wecken zumindest berechtigte Zweifel.

Die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz spielen auch im Finanzbereich eine immer größere Rolle. Wie weit ist die Entwicklung bei Zertifikaten?
Während sich viele noch schwertun, nachhaltige Anlagen klar von herkömmlichen abzugrenzen, hat der DDV mit dem Nachhaltigkeitskodex für Zertifikate eine Vorreiterrolle eingenommen. Dabei wird zwischen ESG-Produkten, die ökologischen und/oder sozialen Standards genügen bzw. Fragen der guten Unternehmensführung Rechnung tragen, und Zertifikaten mit ESG-Impact unterschieden. ESG-Impact-Wertpapiere setzen zusätzlich voraus, dass ein Betrag in Höhe des Nettoemissionserlöses vom Emittenten zur direkten Finanzierung entsprechender Wirtschaftsaktivitäten verwendet wird. Jedoch steckt der Markt für nachhaltige Zertifikate derzeit noch in den Kinderschuhen. Ich würde mir sehr wünschen, dass diese nachhaltigen Zertifikate von Privatanlegern entsprechend angenommen werden, auch wenn Studien zu nachhaltigen Investments im Mittel die Gefahr einer Renditeeinbuße aufzeigen.

Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Anja Schneider.